weiter von Teil 2 …
Denn eines ist offensichtlich: Wenn man sich in dieses Familienbildnis mehr und mehr hineinfühlt, so wird die Zeit, die darüber hinweg gefegt zu sein scheint, tatsächlich bedeutungslos, denn auch wir finden nur in einem Zeitfenster statt, um es einmal so auszudrücken, ein Zeitfenster, von dem wir ironischer- und glücklicherweise nicht wissen, wie lang es geöffnet ist und wie beschlagen sprichwörtlich die Scheibe ist, durch die wir glauben, das wahrzunehmen, was man gern salopp als Realität etikettiert. Fotografie ist Auferstehung – der berühmte, kühne Satz des französischen Semiotikers und Philosophen Roland Barthes (1915-1980) bekommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Durch die Fotografie leben sie alle weiter – irgendwie. Mit uns, in uns, als Momentaufnahme, eine festgehaltene Inszenierung, in einer Sekunde, die mit ihrem eigentlichen Leben, dem alltäglichen Leben, nichts zu tun hatte.
Man kann sich nun einmal nicht ganz der Vorstellung erwehren, einzelne Charaktereigenschaften der Familie Schölch, die auf diesem Bild wie eingefroren erscheinen, leben in uns auf eigentümliche Weise weiter und andere entdecken sie als unsere Charaktereigenschaften, als eine Art psychologisches Eigentum, mit dem wir die Welt wahrnehmen und in der uns eben aus das, was unsere Welt ausmacht, erkennen und wir erkannt werden. Das Typische in den Gesichtern der Schölchs ist es nicht auch ein Teil unseres Angesichts?
In diesem Familienportrait schauen wir auch uns selbst an, ob wir wollen oder nicht. Die stille, ewig unstillbare Sehnsucht Jakobs, dieses verschwiegene Heimweh nach dem Süden, ist es für den einen oder anderen von uns nicht auch das unausgesprochene Heimweh im Süden eine Heimat zu finden? Der Süden vielleicht nicht zwingend als ein Land oder eine Region, sondern vielmehr als innerer Kontinent, der unserem Wesen Leichtigkeit und die schöne Sonne im Herzen gibt. Wie oft mag er daran gedacht haben, als er am Hammer Bahnhof vorbeikam?
Oder vielleicht ist es Bertas Familiensinn, der dem einen oder der anderen mitgegeben scheint? Ihr westfälisch-humoriger Pragmatismus, mit denen sich die Widrigkeiten des Lebens besser meistern lassen? Wie auch immer: Durch dieses Foto blicken wir unseren Vorfahren nicht gerade in die Seele, aber doch gerade in ihr Angesicht. Während wir altern, verbleiben sie in diesem dauernden, nicht enden könnenden Moment jung. Während wir alt werden, bleiben wir mit unseren, in diesem Augenblick festgehaltenen Vorfahren diametral verbunden: Sie altern nicht uns, aber unsere Sicht auf sie mag mit zunehmendem Alter weiser, barmherziger werden, weil auch wir eine Ahnung von dem bekommen, wie sich privates Leben, ausgesetzt in den Gefilden der Geschichte unstrittig verzeichnet wird, um schließlich nur noch als historisch wahrgenommen zu werden.
So ist dieses Familienfoto von Pfingsten 1917, wenn man so will, am Ende ein unerzählter Roman, und wie jeder Mensch unweigerlich immer auch einen eigenen Roman lebt, in seiner Familiengeschichte episch gefangen ist, sich oft genug sein Leben im Kopf erfindet und am Ende glaubt, er habe das alles genau so erlebt, so sind auch die schweigsamen Akteure, die Abgebildeten, am Ende vielleicht mehr als nur Ahnen von uns – denn mit ihnen und durch sie ahnen wir, dass es uns einmal ähnlich gehen wird: ein Bild, ein Eindruck, unerzählt, aber als Gefühl spürbar, denn auch wir schauen uns beim Betrachten dieses Fotos ein wenig selbst an und haben keinen Schimmer davon, wie sich unser Schicksal einmal vollendet, von wem wir einmal vielleicht auf einem Foto betrachtet werden, Angesehene werden, und jemand anderer über uns denkt und resümiert, was aus uns wurde und warum, während wir jetzt in einer Gegenwart sind, die bereits in dem Augenblick, wo wir uns ihrer vergewissern, bereits vergangen ist. Wir stellen uns vor, dass das unvorstellbar ist. Doch das ist ein Irrtum, denn auch das ist eine Wirklichkeit, die für jeden höchstirreal erscheinen muss. Es ist wie ein letzter, immerwährender Blick auf uns selbst, durch fremde, allzu bekannte Gesichter, und wir sehen in ihre Augen, insgeheim hoffend, dass die Augen die Fenster zur Seele sind, wie es bei vielen Dichtern heißt, und wir denken wohl auch, so unsere eigene Seele für ein schweigsame Momente in Augenschein nehmen zu können.