Weiter von Teil 1…
…Sie wird Hamm und das Haus im Schleppweg nicht wiedersehen…
Berta hat einen Jakob Valentin Schölch (1865-1929) am 4. Dezember 1896 geheiratet, der aus Eberbach am Neckar stammt. Sie hat zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Fotos bereits zwölf Kinder geboren. Nur acht davon werden allerdings das Erwachsenenalter erreichen. Sie wird dafür sorgen, dass auch die Mädchen einen Beruf erlernen. Aber das ist nicht das einzige, was ungewöhnlich ist. In der Familie Schölch scheint sich der Norden mit dem Süden vermählt zu haben. Ihre Kinder sind blond und blauäugig oder eben dunkel und haben braune Augen wie unsere Großmutter. Die Lebenslust steht offenkundig im Widerspruch zusr Pflicht, die Härte mit der Poesie. Berta ist katholisch, Jakob evangelisch. Zu dieser Zeit ungewöhnlich. Im erzkatholischen Westfalen sicher nicht nur spöttisch betrachtet. Jakob aber hat sich mit einer gutmütigen, hilfsbereiten Art nach oben gearbeitet. Schließlich weiß er, was Verlust und Demütigung bedeuten.
Denn nachdem seine Mutter Susanna Rosina, geborene Eiermann, mit vierundvierzig 1881 und ein Jahr später sauch sein Vater Georg Jakob Schölch mit ebenfalls vierundvierzig Jahren gestorben waren und ein Treuhänder das Vermögen veruntreut hat, ging der junge, mittellose Herr Schölch mit seinem Bruder Franz nach Westfalen. Franz wird in Essen wohnen. Jakob geht nach Hamm. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Er wird seine Heimat nie wiedersehen, und ein Leben lang ernst und bisweilen wehmütig von den hügeligen Landschaft des Neckars erzählen, von den nicht enden wollenden Sommern, den vorbeifahrenden Lastkähnen auf dem Neckar und den Sonnenuntergängen, die alles romantisieren. Wie Friedrich Hölderlin (1770-1843) in seinem Gedicht „Der Neckar“ schreibt: „In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf/ Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,/ Und all der holden Hügel, die dich/ Wanderer! Kennen, ist keiner fremd mir.“
Er, Jakob Valentin Schölch, kannte vielleicht diese Zeilen nicht, aber das Gefühl der Fremdheit und des Befremdetseins war ihm, davon darf man wohl getrost ausgehen, mehr als geläufig. Er wird ein Leben lang Heimweh haben. Schon mit seinem badischem Dialekt war er ein Fremdling in der neuen, angenommenen Heimat. Zur Zeit der Entstehung hat er das Felllager des Hammer Schlachthofs unter sich. Der Familie geht es gut. Sie haben ein eigenes Haus. Sie bauen Gemüse an, vom Schlachthof kommt das Fleisch. Ich erinnere mich, dass unsere Großmutter Elisabeth (1905-1990) manchmal sagte: „Er trank Rinderbrühe schon zum Frühstück.“ Später haben manche behauptet, das sei die Ursache für seine Arterienverkalkung gewesen, an der er starb.
Erst Mitte der 1970er Jahre wird unsere Großmutter die kleine Stadt am Neckar besuchen, in der ihr Vater aufwuchs. Unsere Großeltern Erich und Elisabeth sind später mehrmals dorthin gefahren. Ich erinnere mich – ich war vielleicht acht – dass meine Mutter, sie und ich in der Nähe der Lippe-Wiesen spazieren gingen. Es roch nach Malz, das von der Brauerei Isenbeck herübergeweht kam, während sie über diese für sie fremde, faszinierende Landschaft und ihren Vater erzählte, den sie so gerne reden hörte, weil er das sanfte, lyrische Badisch sprach. Ich glaube, sie hat seinen Tod nie verwunden und sie fuhr nach Eberbach vielleicht nur, um den Dialekt, den Ton des Vaters, die Vatersprache, zu hören und um ihm dadurch für Augenblicke wieder hörbar nahe zu sein. „Ich hatte einen guten Vater“, sagte sie oft, nicht nur bei dieser Gelegenheit, wie ich weiß. Unsere Großmutter ist zurzeit dieses Familienportraits zwölf. Damit sie sich gerade hält, hat der Fotograf hinter ihr ein schmales Gestell platziert, an das sie sich lehnen muss. Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits ein Jahr bei ihrem Onkel Franz Schölch und seiner Familie in Essen gelebt. Sie ging dort in die Schule. In Hamm hätte sie einen Lehrer als Klassenlehrer bekommen, der für seine drakonischen Strafen berüchtigt war und zuvor ein Kind mit dem Rohrstock bis zur Besinnungslosigkeit geschlagen hatte. Mutter Berta ist in ihrer Einstellung konsequent und human. Das will sie ihrer Tochter keinesfalls zumuten. Sie steht neben ihrer Mutter, mit weißem Kragen und dunkler Schleife. Fröhlich, fromm und verschmitzt, den Blick voll entschlossener Ironie mit höflicher, hoffnungsfroher Nachdenklichkeit – so, wie sie eben auch später meiner Meinung nach war.
Auf dem Schoß von Mutter Berta sitzt die zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ganz zweijährige Franziska, Zissi genannt. Schaut sie erstaunt oder erschrocken ob des Blitzes? Niemand wird sich in dieses kleine Gesicht wirklich hineindenken können. Ess ist eher von beeindruckender Unschuld, einem eher weichen Ungelebtsein. Auch Franziska wird Köchin und später einen Wilhelm Tietz heiraten, der 1943 als Offizier zuletzt an der Roten Mühle in Stalingrad gesehen wird. Dann verwischen sich seine Spuren. Ein Schatten vielleicht, noch lebendig, der sich atomisiert. Er war einer von 60.000 Toten. Es wird ihr unendlich schwerfallen, ihren Mann in den 50er Jahren für tot erklären zu müssen, um eine Kriegerwitwenrente beziehen zu können. Sie heiratete nicht wieder. In den 70er Jahren hatte sie einen Freund. Er fiel beim Kirschenpflücken von der Leiter und brach sich das Genick.
Neben ihr steht mit einem Körbchen in der Hand Maria (1913-1960), gerade vier geworden. Sie wird den besten Freund von Wilhelm Tietz heiraten: Fritz Wedekind, der aus Hannover stammt. Sie stirbt mit gerade einmal 47 Jahren an einem Herzanfall.
Neben unserer Großmutter Elisabeth steht ihr Bruder Hermann (1900-1972). Er ist das älteste, noch lebende Kind. Vier Geschwister sind bereits als Kinder gestorben. Heinrich starb an Masern. Es wurde danach wieder ein Junge geboren, der ebenfalls auf den Namen Heinrich getauft wurde und ebenfalls an den Masern starb. Anna starb mit zwölf an einer Hirnhautentzündung und es gab noch eine kleine Schwester: Hildegard, die ebenfalls als Kind starb.
Hermanns bester Freund wird Arzt. Als Kind und junger Mann ist er jeden Tag im Hause Schölch. Es ist so selbstverständlich, als sei er ein weiterer Sohn. Hermanns Mutter nennt er darum auch nur Mutter Schölch. Die Freunde sind selbst am Lebensende noch unzertrennlich: Sie sterben in der gleichen Woche.
Der schöne Hermann kann sich auch schon 1917 vor Frauen kaum retten. Der Jüngling ist umschwärmt. Mit ihm will man sich sehen lassen. Er ist eben ein Schölch, die Kinder der Schölchs gelten gemeinhin als schön. Ausdrucksstarke Augen, ebenmäßige Gesichtszüge. Das trifft auf eine ernste, bisweilen vielleicht saloppe Frömmigkeit, obwohl es Westfalen sind, denen man nicht zu Unrecht eine gewisse Dickschädeligkeit nachsagt.
In der Familie gibt es ja auch das Gerücht, sie seien Einwanderer aus Italien. Doch wenn der junge Hermann bella figura macht, wird es nicht nur mit einer gewissen Ironie gesehen. Man mag es auch hier erkennen. Der junge Schölch scheint Selbstbewusstsein zu haben, stolz mit Krawatte und Vatermörder, wie man diesen hohen, starren Kragen damals nannte.
Eine Nachbarin bemerkt einmal giftig, dass er schon wieder eine neue Dame im Schlepptau habe. Darauf angesprochen kontert Mutter Schölch ganz nach Art der Familienlöwin: „Was bei mir in der Ernte, ist bei Ihnen in der Blüte.“ Darauf herrscht Ruhe. Doch auch der Nachbarssohn wird umschwärmt sein – weniger von der Damenwelt, mehr von der Polizei. Er landet später übrigens im Gefängnis. Er hat Geld unterschlagen.
Neben Vater Jakob die Zwillinge der Schölchs, die auch gleichsam zwillingshaft heißen: Wilhelm und Wilhelmine, geboren am 13. April 1907, genau am zweiten Geburtstag unserer Großmutter. Es wurde an diesem 13. April also gleich dreimal gefeiert.
Wilhelm, der Onkel Willi unserer Mütter, wird am 26. Februar 1943 in Pusanowka, einem Ort in der Landschaft zwischen Kaluga und Orjol, die 350 km südwestlich von Moskau gelegene Geburtsstadt Iwan Turgenjews, fallen. Er war der Lieblingsbruder unserer Großmutter.
Ein für mich damals als kleines Kind großes, gerahmtes Foto, immer noch mit Trauerflor, hing immer an einer Seitenwand in ihrem Schlafzimmer, wenn ich in diesen für mich riesigen Federbetten in der Wohnung im Nordenstiftsweg versank. Über mir das Kruzifix, dessen Holz aus Überresten des Dachstuhls der Pauluskirche stammte, wenn ich mich recht entsinne. Ich schaute nach dem hingeflüsterten Nachtgebet immer kurz nach oben, wenn der gute, aus Eisen getriebene Mensch aus Nazareth sanftmütig und still vom Kreuz auf mich herabblickte. Ehe das Licht gelöscht wurde, dann war da immer noch das Bild Onkel Willis, ein lächelnder Wehrmachtsunteroffizier. Berta, die ihren Mann um 33 Jahre überlebt und seit seinem Tod nur schwarz trug, hat den Tod ihres Sohnes nie verwunden. Auch ihn überlebte sie um fast zwanzig Jahre. Seine Zwillingsschwester Wilhelmine sogar um 55 Jahre. Sie wurde bereits mit achtzehn das erste Mal Mutter und bekam noch vier weitere Kinder. Mit ihrem Haar, das einen leichten Stich ins Rötliche hat, und dem ebenmäßigen Gesicht ist sie eine Schönheit und gleicht der Schönheit aus einem Gemälde von Tizian. Ihr Zwillingsbruder ist das genaue Gegenteil, blond mit blauen Augen.
Er hatte noch vor Kriegsausbruch geheiratet. Schnell muss er gemerkt haben, dass dieser Krieg nicht für die Deutschen zu gewinnen ist. „Die weiten Russlands, Ihr macht Euch keine Vorstellung, dagegen kommen wir nicht an“, soll er oft gesagt haben, und irgendwann muss er gewusst haben, dass dieser Krieg nicht nur nicht für die Deutschen zu gewinnen ist, sondern dass er auch selbst diesen Krieg nicht überleben würde. An den letzten Tagen seines letzten Fronturlaubs verabschiedete er sich von seinen Schwestern. Er besuchte jede von ihnen. Als er sich von unserer Großmutter verabschiedet hatte, drehte er sich immer wieder um und winkte noch einmal, ein letztes Mal und ein allerletztes Mal. Er bittet seine Frau Anni, ihm über den Tod hinaus treu zu bleiben. Er fällt. Doch das Leben geht weiter. Sie heiratet trotzdem. Der verzweifelte, gebrochene Schwur macht sie unglücklich wie die Ehe, in der sie kinderlos lebt. Sie ist mit unserer Großmutter befreundet, auch Jahrzehnte noch nach dem Krieg. Ihr sagt sie einmal, sie hätte sich an das Versprechen halten sollen.
Mit Ausnahme von Willi werden sie alle Kinder haben. Theo wird mit seiner zweiten Frau Elisabeth, seine erste starb kurz nach dem Krieg an Tuberkulose, einen Sohn bekommen: Bernd. Thea wird Mutter von Elsbeth, Franziska von Bernd und Heide, unsere Großmutter Elisabeth von Ruth und Gisela, meiner Mutter, Maria von Eckart, Wilhelmine von Hildegard, Wilma, Gerdamarie, Theodor und Heinz. Hermann wird Vater ebenfalls von einem Hermann und einer Marlies sein.
Namen einer Familie, ausschließlich wie ins Wasser geschrieben, so sollte man meinen, und wenn man das tatsächlich meint, meint man es falsch. Man kann sich vielleicht der Geschichte, die in diesem Familienportrait begraben zu sein scheint, vielleicht gerade noch durch Desinteresse entziehen, aber eben nicht den einzelnen Biografien.
Demnächst weiter mit Teil 3…