Manchmal passieren seltsame, unvorhersehbare Dinge im Leben und man fragt sich hinterher: war das Zufall? Oder Schicksal? Gibt es so etwas überhaupt? Diese Zufälle können tatsächlich dazu führen, dass sich etwas ändert. Oder dass Menschen oder Dinge plötzlich eine Rolle im Leben spielen.
Mir ist das vor kurzer Zeit passiert. Weil mir mein Bruder ein Dokument gemailt hat, das ihm unser Cousin geschickt hat. Ich habe kaum Erinnerung an ihn, zu lange ist es her, dass wir das letzte Mal Kontakt hatten. Und auch, weil ich eben immer „die Kurze“ war und damit deutlich jünger als ein Großteil meiner Familie. Es sind nur Bruchstücke, die über meinen Cousin und diesen Teil der Familie (auch meiner!) noch in meinem Kopf sind.
Und, weil ich immer „die Kurze“ war, habe ich nie Kontakt gesucht…wie auch. Ich war noch klein und zu meinem Leben gehörte dieser Teil nicht dazu.
Aber: dieser Text, den mein Cousin geschrieben hat, hat mich sehr beeindruckt. Und irgendwie war ich neugierig. So hat sich ein Kontakt ergeben zwischen mir und meinem Cousin… ein Kontakt, den es eigentlich so niemals gegeben hat.
Ich schätze, dass es mindestens 30 Jahre her ist, dass wir uns gesehen haben. Jetzt trifft man sich „virtuell“, aber immerhin. Und ich möchte mit seinem Einverständnis seine Geschichte hier veröffentlichen. Es ist die Geschichte der Wurzeln unserer gemeinsamen Familie, und sein Text beschreibt sehr beeindruckend die damaligen Verhältnisse. Natürlich kenne ich die meisten der beschriebenen Menschen nicht persönlich, aber er schafft es trotzdem, alles fesselnd zu erzählen. Und er knüpft am Ende noch eine Verbindung zum heutigen Leben.
Und weil er so viel zu erzählen hat, wird daraus eine Serie.
Wir beginnen also mit Teil 1.
Familienportrait, Pfingsten 1917.
© Roland Ernst
Früher hatte Fotografie immer etwas Festliches. Man ließ sich nur zu besonderen Anlässen ablichten. Es sollte für später sein, was immer das heißen mochte. Zur Erinnerung? Zum Gedenken? Manchmal wirken diese Bilder in ihrer Konzeption und Anmut wie Gemälde, wie Heiligenbildnisse der Neuzeit. Die Familie wird als eine Einheit dargestellt, eine Mauer gegen die Widrigkeiten aller denkbar möglichen Umstände. So auch hier. Pfingsten 1917. Das Fest des Aussendung des Heiligen Geistes fällt in diesem Jahr auf den 27. Mai. Deutschland ist seit fast drei Jahren im Weltkrieg, der genau jetzt seinen Wendepunkt erfährt. Sechs Wochen zuvor haben die Vereinigten Staaten von Amerika dem kaiserlichen Deutschland den Krieg erklärt und Lenin reist ins zaristische Russland, um seine Revolution vorzubereiten. Im Ruhrgebiet gab es bereits mit dem sogenannten Steckrübenwinter 1916/17 eine Hungerkatastrophe, der Hunderttausende zum Opfer fallen. Im Frühjahr 1917 ist die Versorgung der Bevölkerung auf ihrem Tiefpunkt angelangt. Die katastrophale Lage führt im April, also einen Monat vor Entstehung dieses Bildes, zu einer massiven Streikwelle in der Rüstungsindustrie.
Das Familienfoto oben ist vermutlich bei einem Fotografen in Hamm entstanden. An diesem Tag sind es rund 24,0 °C. Man ist viel zu warm gekleidet. Doch die wahre Hitze ist anderer Natur.
Eineinhalb Jahre wird der Krieg noch dauern, ein Weltbrand, der alles verändern wird. Europa siedet schließlich weit über diesen Krieg hinaus. Es wird einen noch schlimmeren, verheerenderen Weltkrieg geben, gefolgt von einem kalten Krieg, der doch gleichzeitig die Endlichkeit allen Machtstrebens ins Absurde steigern wird.
Davon ahnt die Familie Schölch, die Familie unserer Großmutter, nichts. Dabei werden auch sie in den Wirren dieses 20. Jahrhunderts verstrickt sein. Schließlich ist dieses Foto neben einer Kaffeemühle das einzige, was von dem Haus im Schleppweg 28 und seinem Inventars übrigbleibt, als es am zweiten Adventssonntag 1944 durch einen Brand- und Phosphorbombenangriff in Schutt und Asche gelegt wird.
Zu jedem auf diesem Bild gibt es eine Geschichte und dieses Bild erzählt eine eigene Geschichte. Warum schaut der Junge ganz links beispielsweise zur Seite? Der Junge ist Theodor Schölch (1909-1995), den alle nur Theo nennen, dessen Interesse einem Schaukelpferd gilt, das seitlich hinter dem Fotografen steht, wie mir unsere Großmutter immer mal wieder erzählt hat. Am 9. November 1918 wird er keuchend nach Hause laufen. Er hat eine Sensation gehört, die er, damals noch ein Stotterer, wie unsere Großmutter mir erzählte, fassungslos herausschreit: „Wirrrr ssind jätz Republik!“
Dahinter ebenfalls in Marinekluft seine 14jährige Schwester Theodora (1903-1989). Die Mode ist ein Bekenntnis: Dass die Zukunft auf dem Wasser liege, hat Kaiser Wilhelm gesagt. Der Flottenbau ist außerordentlich populär. Während der britische Welthandel zwischen 1887 und 1907 lediglich um 80 Prozent zunahm, konnte der deutsche ein Plus von 250 Prozent verzeichnen. Im berühmten Daily-Telegraph-Interview 1908 betont Wilhelm II.: „Deutschland ist ein junges und wachsendes Reich. Es hat einen weltweiten, sich rasch ausbreitenden Welthandel. (…) Deutschland muß eine machtvolle Flotte haben, um seinen Handel und seine mannigfachen Interessen auch in den fernsten Meeren zu beschützen.“ In England wurde die deutsche Flotte als große Bedrohung empfunden. Auch das ist eine der vielfältigen Ursachen für diesen Krieg. Thea, wie sie in der Familie gerufen wird, wird Köchin und einen Ernst Brüggemann heiraten, der eben aus diesem Krieg als Versehrter heimkehren wird – mit einem offenen Bein. Sein Ulcus cruris war eine entzündliche Wunde, die mehr als sechzig Jahre nicht heilen sollte.
Links von ihr Mutter Berta (1874-1962), geborene Kroll. Sie stammt von einem Bauernhof aus Heessen, ihre Mutter Anna, geborene Huismann, lebt, als dieses Familienfoto entsteht, in Köln, wo sie 1922 sechsundachtzigjährig sterben wird. Ihr Vater Kranz Kroll starb 1895 mit fast 71 Jahren. Großmutter Kroll besucht die Familie regelmäßig. Gegen Ende jeden Besuchs sagt sie: „Ich geh‘ noch mal aufs Pöttchen, damit ich auch widderkomme.“ Einmal vergisst sie es. Sie wird Hamm und das Haus im Schleppweg nicht wiedersehen.
Teil 2 in Kürze hier….
Ich kann mich an die meistern Personen noch erinnern!
Außer natürlich die Eltern unserer Oma, denn die waren ja schon tot, als ich auf die Welt kam!
Aber wirklich ein sehr cooler Bericht, mein lieber Roland! ♥
LGG
Ich finde es erstaunlich, wie man „trockene“ Geschichte so kurzweilig und interessant erzählen kann! Wirklich sehr beeindruckend geschrieben, Roland. Danke für dieses Stück Familiengeschichte!
Freut mich sehr, wenn es Euch gefällt und berührt. Ich würde gern mehr über unseren Urgroßvater Jakob Valentin Schölch wissen. Es gab immer das Gerücht, dass ein Teil dieser Familie aus Italien stammen würde. Immerhin hieß ja seine Mutter Susanna Rosina – das klingt immerhin nach italienischer Oper, vielleicht gibt es ja unter unseren Vorfahren auch einen italienischen Opa, wer weiß. Ich versuche das mal langfristig zu recherchieren.
Zumindest Rosanna hat auch (nord-)italienische Wurzeln, wie Ihr hier
https://www.myheritage.de/dna/ethnicity/intro/B0PMAK2EEPCLGPQI61154PA2AHINEQ27ELK4ARQ6EL86EJ1MDKQKIGBHATL6IPQICP930M9K6946MK2D71972E9NDD5MQTHJAP2J4H8?utm_source=dna_lifecycle&utm_medium=email&utm_campaign=500174&utm_content=dna_results&tr_date=20190206&email_check=1
schön sehen könnt!